Ich sehne mich nach Regeln im Umgang miteinander, die nicht wissenschaftlich in den Kontext der Zeit eingeordnet werden müssen. Etwas, das alle Zeiten überdauert und die Verbindung zwischen Menschen als etwas Greifbares erklärt, das keiner Korrektur, keiner Neuauflage durch neue Erkenntnisse bedarf.
Im diagnostischen Miteinander, davon bin ich überzeugt, werden wir immer wieder zu neuen Erkenntnissen gelangen, die heutige Diagnosen erweitern oder widerlegen. Aber ich möchte das Miteinander nicht mit diagnostischen Begriffen verstehen wollen: „Sie ist eine Narzisstin“. Oder „Er hat eine Bindungsstörung, das erklärt sein Verhalten“. Bitte verstehe mich nicht falsch. Diagnosen können helfen, Verhalten einzuordnen. Aber ich glaube nicht, dass Diagnosen die Grundlage dafür sind, eine tiefe Verbindung zu einem anderen Menschen aufzubauen.
Dazu ein Gedanke:
„Eine Landkarte ist nicht die Landschaft.“ (Korzybski)
Unsere innere Landkarte des Lebens kann uns helfen Dinge einzuordnen, aber sie wird niemals die Komplexität des Lebens selbst erfassen, wenn wir uns auf Worte und Gedanken verlassen, um das Leben zu erklären. Wir werden das Leben nicht wahrnehmen, wenn wir, gefangen in unseren Diagnosen, alles, was geschieht, bewerten und mit unserer Landkarte vergleichen. Wir werden nicht verstehen, denn was nicht auf unserer Landkarte ist, kann nicht existieren. Es soll ja Autofahrer:innen gegeben haben, die sich so sehr auf ihre digitale Landkarte (Navi) verlassen haben, dass sie in einen See gefahren sind. Die Karte zeigte hier eindeutig eine Straße, die es offensichtlich nicht (mehr) gab.
Rosenberg sagte dazu: „Eine Landkarte kann niemals die Schönheit einfangen, die ein Mensch in jedem Moment ausstrahlt.“
Für mich heißt das: Wenn ich mein Gegenüber wirklich verstehen will, wenn ich das Leben verstehen will, dann sollte ich meine Landkarte immer mal wieder zur Seite legen und achtsam sein für das, was vor mir liegt, bevor ich den nächsten Schritt mache. Das bedeutet auch, meine Sicherheit ein Stück weit aufzugeben und mich auf einen Weg zu begeben, dessen Ziel ich nicht kenne. Ein Abenteuer, das dazu führen wird, dass jeder Kontakt mit einem Mitmenschen in mir Veränderung ermöglicht. Hierfür braucht es Mut und die Bereitschaft, meine individuelle Wirklichkeit loszulassen und mich ganz auf mein Gegenüber einzulassen. Dieser Prozess des Verstehens bedeutet keineswegs, dass ich mit dem, was mein Gegenüber von sich gibt, einverstanden sein muss. Gleichzeitig ermöglicht dieser Ansatz tieferes Verständnis.
Wenn ich mir vorstelle, wie anders unsere Welt sein könnte, wenn wir unsere Landkarten öfter mal beiseite legen und uns einfach auf unser Gegenüber einlassen würden, ohne innerlich zu vergleichen, zu verurteilen und Zuschreibungen zu suchen, dann bin ich mir sicher, dass wir einen Großteil der heutigen Konflikte nicht erleben und durchleben müssten.
In diesem Sinne sollten wir unsere inneren Landkarten doch öfter beiseite legen und Kommunikation als Abenteuer erleben.